Es sind Geschichten wie diese, von denen das neue Buch des Zoologen Josef Reichholf in kurzen, aber dichten Kapiteln fesselnd erzählt. Der Autor, durch zahlreiche populäre Bücher zu ganz verschiedenen biologischen Themen einer breiten Leserschaft bekannt, muss nicht mit Dramatisierungen und Super­lativen aufwarten, spricht doch aus den Schilderungen seine eigene Fas­zination ob der ungeheuren Vielfalt und Komplexität der Natur.
Und glaubt man, einen Zusammenhang schnell erfasst zu haben, lauert im nächsten Absatz bereits eine neue, unerwartete Frage. Denn was mag am ersten Beispiel verblüffender sein? Dass ein kleiner Vogel die Intelligenzleistung aufbringt, den Menschen so gezielt und effektiv für sich einzuspannen, ihm die Suche nach dem Nest abzunehmen und im Umkehrschluss selbst einfacher an das ihm sonst unzugäng­liche Wachs zu kommen? Oder ist es die Symbiose mit jenen Bakte­rien, die es ihm erst ermög­lichen, die schier ungenießbare Nahrung im Gegensatz zu den meisten anderen Tieren überhaupt verwerten zu können? Oder ist es der Umstand, dass der Honiganzeiger eben durch jene einseitig eiweißarme Nahrung kaum in der Lage wäre, seine Jungen vernünftig groß zu füttern, weshalb er seine Eier lieber in die Nester fremder Arten legt, wo sich der Jungvogel wie unser Kuckuck ­gebärdet und erst einmal die rechtmäßigen Nachkommen seiner Zieheltern ins Jenseits befördert?
Das entscheidende Wort fiel bereits: Symbiose. Eines, bei dem man allgemein verstehend nickt, das jeder früh in der Schule gelernt hat, dessen Grundprinzip so einleuchtend und simpel begreiflich scheint: Zwei ­Arten von Organismen leben zusammen, und jede zieht daraus einen Vorteil.
Schon in diesem ersten Beispiel ist durch die Ei­ablage in fremde Nester aber eine Grenze überschritten: die von der Symbiose mit wechselseitigem Nutzen zum einseitigen Parasitismus.
Die weiteren 30 Kapitel des Werks sind voller Beispiele dafür, wie schwierig sich bewerten lässt, ob bei einer Symbiose die Beteiligten – das muss keine Zweierbeziehung sein, sondern es kann eine ganze Menge von Arten in einem wilden Geflecht zusammenfinden – im gleichen Maß profitieren oder ob ein arges Missverhältnis bis zur ganz unverständlichen, scheinbaren Einseitigkeit herrscht.
Beim Blick auf den besten Freund des Menschen etwa überlegte man lange, wie genau unsere fernen Vorfahren denn nun darangegangen sein könnten, ihn zu domestizieren.
Reichholf stellt anschaulich dar, dass die Hundwerdung des Wolfs keineswegs einer einseitigen Initiative des Menschen entsprang, sondern dass vielmehr bestimmte Wolfsrudel schon früh aktiv die Nähe des nomadischen Hominiden suchten, um von dessen reichen Abfällen zu profitieren. Im Gegenzug hielten sie ihrer Menschengruppe andere Rudel vom Leib oder warnten sie während der Nacht, wenn der mit schwachen Wahrnehmungssinnen gestrafte Partner arglos schlief, rechtzeitig vor ungebetenen Gästen aller Art. Der Nutzen war also schon früh beiderseitig.
Doch auch eine ganz bemerkenswerte Zusammenarbeit von Raben und Wölfen in nördlichen Breiten wird erklärt und zeigt, dass der eine Partner nicht aufgeschmissen sein muss, wenn der andere großflächig der Vernichtung anheimfällt.
War der auf Mauritius ­endemische Calvariabaum für sein Keimen darauf an­gewiesen, von der schon seit Jahrhunderten ausgerotteten Dronte gefressen und in ihrem robusten Magen verdaut zu werden? Waren deswegen im 20. Jahrhundert nur noch 13 uralte Bäume übrig? Wie kam das vielfäl­tige und hochspezialisierte Zusammenspiel von Pflanzenblüten und Insekten zustande, und welchen überragenden Nutzen stiftet es? Wie kann es geschehen, dass gleich zwei Arten von Kleinschmetterlingen sich im mit Algen bewachsenen Fell des Faultiers einnisten und von dem trägen Säuger vollkommen abhängen – sogar davon, wann er sich zur Toilette auf den Boden bequemt?
Die Antworten darauf sind keineswegs einfach zu geben, geschweige denn immer eindeutig. Und es überrascht schon, dass die Großtiere der Savanne den Madenhacker als Befreier von lästigen Hautparasiten auf ihrem Rücken dulden, obwohl dieser Vogel ihnen schon einmal aus purem Eigennutz in Wunden herumhackt und zu allem Überfluss gar kein Interesse daran ­haben kann, seine großen „Partner“ dauerhaft von ihren Plagegeistern zu befreien. Schließlich würde er sich so die eigene Nahrungsgrundlage entziehen.
Bei den großen Blattschneiderameisen Südamerikas mit ihren unterirdischen Pilzfarmen befreit uns das Buch noch von einem ganz anderen Klischee: Die Insekten leisten sich nicht im scheinbaren Überfluss des grünen Regenwalds den Luxus, eine ex­travagante Ernährungsform zu wählen und aktiv Landwirtschaft zu treiben, sondern sie werden in einer harten, lebensfeindlichen und unergiebigen Umwelt dazu gezwungen. Direkt könnten sie die giftigen Blätter nämlich gar nicht fressen.
Die farbenprächtigen Korallen, von denen es wider besseres Wissen schwerfällt zu glauben, dass sie keine Pflanzen, sondern Tiere sind. Der wechselsei­tige Nutzen von Seeanemone und Clownfisch. Fleischfressende Tropenpflanzen, in deren Kelchen voller aggressivem Verdauungssaft Fledermäuse geruhsam schlafen und Ameisen hausen. Die Pflanzen ganz allgemein, in deren Blätter ein Bakterium seit Urzeiten fest eingebaut ist, das ihnen erst die Fotosynthese erlaubt und, darauf aufbauend, alles höhere Leben auf Erden ernährt. Wir Menschen, die mehr Mikroben mit uns umhertragen, als wir ­eigene Körperzellen haben, und vieles mehr.
Nach der Lektüre dieses Buchs wird man auf so manches im Park, im eigenen Garten oder in der nächsten Naturdokumentation mit anderen Augen blicken. Die Faszination, das Staunen über die bis zur Perfektion getriebenen Verästelungen und Abhängigkeiten in der Natur steigert dieses ungewöhnliche Werk in jedem Fall. Die Ehrfurcht vor der ungebrochenen Kraft der Evolution erst recht.
Seinen besonderen Charakter erhält „Symbiosen“ durch die sehr gelungenen und ideenreichen Illustrationen des Künstlers Johann Brandstetter, der sich seit vielen Jahren intensiv mit solchen Beziehungen beschäftigt. Seine feine Be­obachtungsgabe und sein handwerkliches Können sieht man den Darstellungen an. Die prächtigen Bildtafeln und vergrößerten Ausschnitte daraus machen das Beschriebene anschaulich und lebendig – und beweisen, dass sie in Zeiten von allgegenwärtigen Handykameras und Bilderschwemme im Internet in ihrer detailreichen Darstellung und Akzentuierung nicht selten den Fotografien überlegen sind.
Alexander Pentek