Eine tropische Flussufer-Landschaft verschönert die große Pausenhalle einer Kasseler Berufsschule. Die Anlage entstand im Rahmen eines Schulprojekts. | Von Rainer Stawikowski

Betritt man die Pausenhalle der Willy-Brandt-Schule in der ­Brückenhofstraße im Kasseler Stadtteil Oberzwehren, fällt der Blick unweigerlich auf das große Paludarium. Möchte man dann linker Hand die Aula oder rechts die Cafeteria betreten, führt kein Weg an der immerhin drei Meter langen Amazonas-Landschaft vorbei. Obwohl gerade große Pause und das Aquarium von einer größeren Schülergruppe umringt ist, lässt es sich nicht übersehen. Kein Wunder, denn der Glaskasten
mit der Uferdekoration reicht bis knapp unter die Decke.



Wer hat dieses sehenswerte Aquarium gebaut, eingerichtet und mit Fischen besetzt? Wer betreut es? Dazu unten mehr, doch vorher in­teressiert die Frage: Was ist das überhaupt für eine Schule, in der dieses Teil steht?
„Landkreis Kassel – berufliche Schulen“ und „Lehranstalt für pharmazeutisch technische Assistenten“ liest der Besucher über dem Haupt­eingang. Zurzeit betreuen hier über 90 Lehrer ungefähr 1400 Schüler in den vier Abteilungen „Fachoberschule & ­Berufsfachschule“, „Besondere Bildungsgänge & Berufsgrundbildungsjahr“, „Gartenbau“ & „Floristik“ sowie „Gesundheit“. Das lässt bereits ahnen, dass das Pausenhallen-Aquarium für irgendwelche Unterrichtszwecke wohl keine Bedeutung hat. Dennoch ist es mehr als „nur ein Blickfang“.

Verantwortlich für die Anlage ist Kristian Kühn, Jahrgang 1954, Sonderschulpädagoge und Aquarianer. Ein Aquarium stand bereits im elterlichen Haushalt, sein Vater pflegte dieses Hobby. Kristian begann eigentlich als Terrarianer, da war er 22 Jahre alt und Student. Schlangen waren seine große Leidenschaft. Später besaß er ein Aquaterrarium – mit Wasserfall! –, in dem auch die ersten Fische schwammen. Schon bald entdeckte er ­seine Leidenschaft für die Cichliden des ostafrikanischen Malawisees (diese Vorliebe dürfte das Mbuna-Aquarium zwischen Lehrerzimmer und Sekretariat erklären). Doch dann folgten erst einmal Heirat, Referendariat, Hausbau und eine aquaristische Auszeit.
Im Jahr 1984 begann Kristian ­seinen Dienst an der Berufsschule in Oberzwehren, die seit 1993 Willy-Brandt-Schule heißt. Damals entstand eine herausfordernde Idee: „Schüler und Lehrer verschönern ihre Schule.“ Was lag näher, als die Pausenhalle mithilfe einer tropischen Flussufer-Landschaft von ihrer Tristesse zu befreien?

Jeder Aquarianer weiß, dass eine solche Anlage einiges kostet, und ohne großzügige Unterstützung durch die Lehrerschaft, aber auch seitens des Fördervereins der Schule wäre die Verwirklichung des ehrgeizigen Vorhabens kaum möglich gewesen. An die 3000 Euro kamen bisher zusammen, und so konnten das Aquarium, die erforderliche Filter-, Heizungs-, Beleuchtungs- und Beregnungstechnik sowie das für den „Uferaufbau“ benötigte Material (Glas, Aluminiumprofile) angeschafft werden.
Aber es sollte ja mehr werden als ein „gewöhnliches“ Aquarium, und das war nur in Eigenleistung machbar. Gut, dass die Schule über mehrere Werkstätten verfügt! Da gibt es eine Metall- und eine Holzwerkstatt, aber auch eine Gärtnerei, auf die Lehrer und Schüler zurückgreifen konnten.

So wurde aus dem Plan ein richtiges Projekt: Die „Metaller“ konstruierten das stabile Stahluntergestell, auf dem das Aquarium fest und sicher steht. Die Aufgabe, das Gestell zu verschönern und zugleich einen nützlichen Schrank darum herum zu bauen, übernahmen der Holztechnik-Lehrer und seine Schüler.

Auch die Innendekoration entstand im Eigenbau. 300 x 70 x 70 Zentimeter – so die Maße des Beckens – ergeben ein Volumen von fast 1500 Litern, und da braucht man schon einiges an Material, um möglichst natürlich wirkende Rück- und Seitenwände zu schaffen. Sie wurden von Schülern aus Kunststoff modelliert und anschließend mit Dispersionsfarben so gestrichen, dass sie wie eine steile, ­felsige Uferböschung aussehen.
Genauso der „Überbau“, 120 Zentimeter hoch ist das Steilufer oberhalb des Wasserspiegels. Die Unterwasser-Steindekoration setzt sich an der Rückwand ein Stück über die Wasserlinie und an den Seiten bis zur Decke fort. So entsteht rechts und links der Eindruck einer begrenzenden Fels­wand, während die Rückseite frei bleibt, um Platz für eine möglichst ­üppige Bepflanzung zu bieten.

Hier kam die schuleigene Gärtnerei ins Spiel, die – wie praktisch! – auch tropische Zimmerpflanzen kultiviert. Solche Gewächse bieten sich für die Begrünung des Ufers an: schnell wachsende Efeutute, diverse Farne, die eine oder andere Bromelie.
Bescheiden weist Kristian darauf hin, dass die Vegetation über dem Wasser noch lange nicht so aussieht, wie er es sich vorstellt. Aber das braucht seine Zeit, beeindruckend ist die von Schüler- und Lehrerhand geschaffene Kulisse schon jetzt.
Nur der Vollständigkeit halber seien die technischen Daten des Aqua­riums kurz aufgeführt: Das Wasser, das in Kassel mit einer Gesamthärte von etwa 14 °dH und einem pH-Wert von pH 7,4 aus der Leitung fließt, wird in einem offenen Zwei-Kammern-Filter mit einem Volumen von 250 Litern gereinigt; er steht in dem Schrank unter dem Becken und wird von einem 200-Liter-Innenfilter unterstützt. Beheizt wird das Becken mittels Regelheizer (zweimal 100 Watt), die Temperatur beträgt rund 27 °C.
Die über der Uferzone installierte Beleuchtung sieht auf den ersten Blick gigantisch aus, doch dieser Eindruck täuscht. Drei HQI-Strahler à 80 Watt und vier Leuchtstoffröhren à 15 Watt  reichen für das Gedeihen der Überwasserpflanzen aus, doch dringt von ihrem Licht nicht allzu viel bis auf den Boden des Aqua­riums durch. Drei weitere Leuchten erhellen – mehr oder weniger punktuell – kleinere Bezirke des Wasserteils. Für dessen Einrichtung ist das nicht weiter tragisch, besteht sie doch vor allem aus den geschilderten Kunststoff-Felsaufbauten sowie mehreren größeren Steinen und Holzwurzeln, nur hier und da durchsetzt von einigen Vallisnerien und Anubias, die keine besonderen Lichtansprüche stellen.

Die Fische stört das Dämmerlicht ebenfalls nicht. Der große Trupp Segelflosser (Pterophyllum scalare) und die kleine Gruppe Erdfresser (Geophagus winemilleri) fühlen sich in ihrem schattigen Urwaldfluss ebenso wohl wie mehrere Stör- (Sturisoma aureum), Antennen- (Ancistrus sp.) und Panzerwelse (Corydoras sterbai).

Rund 35 Fische leben in dem Becken, ein bescheidener, vernünftiger Besatz! Allesamt sind sie – wie auch die Wasserpflanzen – Spenden von ­befreundeten Aquarianern, darunter Mitglieder der Aquarien- und Terrarienfreunde Baunatal e. V., denen Kristian vor sechs Jahren beitrat und deren Schriftführer er heute ist.

Aber zurück zum Blickfang. Wem er seine Entstehung zu verdanken hat, wissen wir ja nun, aber wer betreut das Aquarium?
Gleich nach unserem Fototermin bittet Kristian drei Schüler seiner Klasse zu einer kleinen Besprechung in die Cafeteria. Sie kümmern sich um alle anfallenden Wartungs- und Pflegearbeiten wie tägliches Füttern, monatliches Wasserwechseln, gelegentliches Scheibenputzen und Filterreinigen – nicht anders als in vielen Schulklassen und AGs, die man so kennt. Dennoch muss ich erst einmal verarbeiten, dass die drei Jugendlichen, die da vor mir sitzen, sich überhaupt für Aquaristik interessieren.
Blendona (16) stammt aus dem Kosovo, „liebt Tiere“ und findet Fische „süß“. In ihrer Familie gibt es – leider – keine Heimtiere, umso mehr Freude bereitet ihr das Schulaquarium.

Iman (17), geboren im Iran, kam aus Afghanistan nach Deutschland und fand schnell Interesse an dem Pausenhallen-Amazonas und Spaß an den Pflegearbeiten. Inzwischen nennt er ein Zimmer sein Eigen, zwar nur rund zehn Quadratmeter groß, doch der Platz reicht für ein 60-Zentimeter-Aquarium, in dem ein paar Mollys leben. Iman träumt von einer richtigen Wohnung. Ein Meter-Aquarium besitzt er schon – fast, nur wenige Raten muss er noch abstottern.
Auch Mortesa (18) fand seinen Weg von Afghanistan nach Kassel und ist fest davon überzeugt, in nicht allzu ferner Zukunft sein eigenes Aquarium einzurichten.

Iman und Mortesa erzählen mir, worauf es ihnen ankommt: Zuerst einmal müssen und wollen sie die deutsche Sprache noch besser erlernen, sie sind ja erst seit ein paar Monaten damit befasst. Dann ist eine Berufsausbildung erstrebenswert. Und schließlich ein eigenes Heim, natürlich mit Aquarium. Iman erklärt mir: „Der Besatz an sich ist gar nicht so wichtig; Hauptsache, die Arten passen zusammen!“ Wie wahr.
Auf jeden Fall, darin scheinen die drei sich einig, ist ein solcher Glaskasten ein faszinierender Ausschnitt aus einem natürlichen Lebensraum, ein Wasserwechsel überhaupt nicht langweilig und ein Besuch mit ihrem Klassenlehrer im Baunataler Aquarienverein spannender als noch so viele Facebook-„Freunde“. Na also.