Doch die Art und Weise, wie Ulrike Fokken es darstellt, wie sie es – auch wissenschaftlich begründet – belegt und wie tief sie dabei geht – nicht nur sachlich, sondern auch emotional –, das ist einzigartig. Die Autorin beschreibt aus ihrer Zeit in Andalusien einen „verführerischen Sog“, der von der Natur ausgeht. Dieser Sog ist in vielen Sätzen und zuweilen auch zwischen den Zeilen zu spüren. Dabei ist dieses Buch nicht nur schön, sondern es legt gelegentlich auch – immer an passender Stelle! – den sprichwörtlichen Finger in die Wunde. Sätze wie: „Unsere Trennung von der Natur ist so perfekt vollzogen, dass wir uns als zivilisierte Menschen des 21. Jahrhunderts des Recht anmaßen, über Leben und Tod aller anderen Lebewesen der Erde zu entscheiden“, tun jedem sensiblen und naturverbundenen Menschen weh, entsprechen sie doch der brutalen Realität. Dabei wird immer wieder die Naturentfremdung der Menschen in der westlich geprägten Zivilisation deutlich. Wie haben wir uns entfremden lassen von unserem Ursprung, mal durch die Kirchen, mal durch politisch fatale Ideologien und heute durch den Konsum? Was bleibt, ist ein tatsächlich seiner Natur entfremdeter Mensch, ohne Wurzeln und Orientierung. Die Verfasserin beschreibt sehr schön, wie sich die Naturentfremdung dauerhaft auf unsere Gesellschaft auswirken könnte und wie wir – als sich immer weiter von ihrem Ursprung wegbewegende Gesellschaft – deshalb möglicherweise an Herausforderungen wie dem Klimawandel oder der dramatischen Abnahme der Artenvielfalt scheitern werden, weil uns – eine Folge jener Entfremdung – längst die Kreativität fehlt. Mit dieser Annahme befindet sich Fokken im Übrigen in bester Gesellschaft mit führenden Neurobiologen, etwa Gerald Hüther. Fokkens Buch ist zudem ein Plädoyer für Wildnis. Das ist ganz wichtig, denn Begriffe wie „Natur“ oder eben auch „Wildnis“ sind im deutschsprachigen Raum nicht klar definiert. Und sie plädiert nicht nur der Wildnis wegen für deren Erhalt, sondern auch unseretwegen: „Wildnis macht kreativ“, lässt sie den Leser wissen und untermauert dies mit Fakten. Das Buch ist keineswegs esoterisch, auch wenn mancher Satz bei dem einen oder anderen (kritischen) Leser vielleicht so ankommen mag: „Denn nur in der absichtslosen Harmonie der wilden Natur findet unser Geist das Gegenüber, das er für ein kreatives und gesundes Leben braucht.“ Ulrike Fokken zeigt in ihrem Werk, dass selbst der Großstadtmensch keineswegs auf Wildnis und auf Naturerlebnisse verzichten muss. Das wird in den Kapiteln „Durch den Stadtpark in die Wildnis“ oder „Verwilderung in einem zivilisierten Land“ sehr deutlich. In den hinteren Kapiteln ihres Buchs zeigt die Autorin außerdem anschaulich, dass es nicht zuletzt wirtschaftlich wichtig ist, Deutschland wieder mehr „verwildern“ zu lassen. Aus pädagogischer Sicht kann ich das ohnehin nur unterstreichen. Zusammengefasst lässt sich „Wildnis wagen!“ nur mit den Prädikaten „wertvoll“ und „unbedingt empfehlenswert“ versehen. Es wäre sehr wünschenswert, wenn dieses Buch, das glücklich, nachdenklich, anregend, wild machend zugleich ist, nicht ausschließlich von Naturliebhabern gelesen wird, sondern vor allem auch von Bildungspolitikern, Stadt- und Verkehrsplanern, Wirtschaftskapitänen, Konzernlenkern sowie Unternehmern. Ich glaube, dass diese Publikation – eine entsprechende Verbreitung vorausgesetzt – die Gesellschaft ein wenig verändern kann. Ich hoffe es zumindest, denn mich hat es, trotz oder gerade wegen meiner tiefen Liebe zu allem Lebendigen, tief berührt. Michael Kempkes