Wenige Jahre später hatte der Knabe erfolgreich sein Biologiestudium hinter sich gebracht und bekam ein großzügiges Stipendium für ein Jahr freier Forschung in Südamerika. Diese abenteuerliche Reise durch die Welt der Tropen von 1970 bildet dann auch den Auftakt seiner Rückschau. Keine persönliche Autobiografie übrigens, sondern eine, die auf die wissenschaftlichen Forschungen blickt und doch nie ins Abstrakte oder gar Dröge abdriftet, sondern durchweg lebendig bleibt und von der Liebe zum Thema geprägt ist. Und die häufig ungewöhnlichen Beobachtungen und Erlebnisse dienen Josef H. Reichholf als Ausgangspunkt für ganz erstaunliche Erklärungen, Deutungen, Theorien. Südamerika bildet mit der Ökologie der Regenwälder die erste Überraschung. Extreme Artenvielfalt bei Tieren und Pflanzen, scheinbare Überfülle trifft sich mit erschreckend wenig tierischer Biomasse pro untersuchtem Gebiet, mit außerordentlich nährstoffarmen Flüssen, die viel weniger Fische beherbergen, als man erwarten würde. Dafür hängen am Ufer Faultiere im Geäst, deren träger Stoffwechsel an Reptilien erinnert, in ihrem Fell wachsen Algen und verbringen hochspezialisierte Motten ihr Leben. Der Leser lernt den Zusammenhang von Artenvielfalt und Nährstoffarmut kennen, von Spezialisierung und Seltenheit, die Abhängigkeit der Amazonaswälder von der Düngung durch den Sand, der aus der fernen Sahara über den Ozean geweht wird, sowie die Effizienz eines fein verästelten Ökosystems, das fast alles verwertet und kaum einen Nährstoff durch die Flüsse fortschwemmen lässt. Wem wäre aber – hier sind wir schon im großen Kapitel über die Inselwelt – auch bewusst, dass die Meeresströmungen vor der Verbindung Nord- und Südamerikas noch ganz anders verliefen und dass sich auf natürlichen Flößen verdriftete Tiere ebenfalls ganz anders im Indopazifik verbreiten konnten als heute? Wer denkt an den Zusammenhang von Tsetsefliege und Zebrastreifen oder das Zusammenspiel von afrikanischen Tropenkrankheiten und menschlicher Evolution? Es sind diese Sprünge von den konkreten Beobachtungen zu den unerwarteten Erklärungen und den verborgenen Zusammenhängen dahinter, die das Buch so lesenswert machen. Reichholf bringt das Kunststück fertig, die Stauseen am Inn ent- lang der deutsch-österreichischen Grenze als genauso rätselhafte, reiche Naturlandschaft voller Überraschungen zu beschreiben wie die exotische Wunderwelt Galápagos’, Ozeaniens oder Afrikas. Auf über 600 Seiten nimmt der ehemalige Universitätsprofessor und Leiter der Wirbeltierabteilung der Zoologischen Staatssammlung München seine Leser mit auf einen Parforce-Ritt durch die Jahrzehnte, die Lebensräume, die gesamte Fülle der Natur. Und bei aller Sachlichkeit schimmert die persönliche Leidenschaft durch, wenn Reichholf an jener starren Bürokratisierung des Naturschutzes in Deutschland verzweifelt, die die Natur einzäunt und den interessierten Naturfreund aussperrt und ihm das eigene Beobachten und Erleben erschwert, während andere Gruppen – etwa Jäger und Angler – ungehindert Zutritt bekommen. Er scheut den Konflikt mit den Jägern nicht, wenn er belegt, warum der Abschuss vieler Tiere absurderweise ihren Bestand übermäßig produktiv hält, also gar nicht reduziert, sondern ungewollt sogar erhöht. Er kritisiert die industrialisierte Landwirtschaft, die das Land mit Maisfeldern zupflastert und für deren Rinderherden in den deutschen Ställen auf der anderen Hälfte des Globus große Regenwaldflächen gerodet und durch Soja-Monokulturen ersetzt werden. Er beschreibt, wie die Güllemassen das Land in Mitteleuropa belasten, während Hausabwässer so effektiv geklärt werden, dass den Flüssen schon wieder Nährstoffe für größere Fischbestände fehlen. Anhand seiner eigenen Fehlannahmen und seiner Aufzeichnungen, die Jahrzehnte umspannen, zeigt Reichholf aber auch, dass Biologen sich vor wohlfeilen, allzu einfachen Erklärungen hüten sollten. Er lehnt die starre Sicht auf geschlossene „Ökosysteme“ und „natürliches Gleichgewicht“ ab und hebt hervor, wie künstlich – auch das belegt er sehr eindrücklich – diese Natursicht doch ist. Er geht von einer dynamischen Natur aus, die ständig im Wandel begriffen ist und die allenfalls halbwegs „stabile Ungleichgewichte“ erzeugen kann. Anhand eigener Beobachtungen, etwa in den Inn-Auen, beschreibt er, dass sowohl die Artenzahl als auch die jeweilige Bestandsdichte in einem Areal über die Jahrzehnte ganz erheblichen Schwankungen unterliegen können. Jeden Wandel im Kleinen – ganz nach der gerade vorherrschenden Mode – gleich mit der Umweltverschmutzung, dem Waldsterben oder dem Klimawandel zu erklären, diesem Muster begegnet er mit größter Skepsis. Aber davor, ein unabhängiger Geist zu sein, scheute Reichholf sich nie. In den letzten Jahren fiel er mit einigen ungewöhnlichen Themen und Theorien auf, widmete sich in seinen zahlreichen Büchern der spät erkannten Intelligenz der Krähenvögel, dem realen Hintergrund von Fabelwesen, dem erstaunlichen Umstand, dass unsere Großstädte längst artenreicher sind als das intensiv genutzte Land. Ebenso erklärte er auf interessante und anschauliche Weise den evolutionären Sinn von Schönheit und Konkurrenz, handelte sich mit seinem Rückblick auf die schwankungsreiche Klimageschichte des letzten Jahrtausends erwartungsgemäß viel Kritik ein und sorgte nicht zuletzt mit der – nur auf den ersten Blick – wundersamen Idee für Aufsehen, dass der Getreideanbau und damit die Sesshaftwerdung des Menschen in Vorderasien ausgerechnet auf das Bierbrauen zurückgehen. Nicht umsonst gönnte das legendäre „Nachtstudio“ des ZDF ihm einst eine ganze Sendung. „Mein Leben für die Natur“ blendet trotz des großen Umfangs manche dieser Themen komplett aus, bringt dafür andere, vorher nicht behandelte Phänomene zu Papier. Das Buch ist faktenreich, kurzweilig und kommt durch die gekonnt eingesetzte Sprache komplett ohne Illustrationen aus – eine lehrreiche populärwissenschaftliche Autobiografie mit hohem Unterhaltungswert. Alexander Pentek