Sein neuestes Werk – beeindruckend illustriert mit anschaulichen Zeichnungen von Johann Brandstetter – widmet sich der Entstehung des Menschen, dem Gang der Evolution seit dem Beginn des Lebens auf der Erde und wagt im letzten Teil auch einen Ausblick auf die mögliche Zukunft. Es ist leicht verständlich geschrieben, vereinfacht aber auch nicht unnötig. Mag man es in seiner Ansprache zunächst ausschließlich für ein Jugendbuch halten, so verflüchtigt sich dieser Eindruck schnell. Immer wieder kommt Reichholf im ersten Teil des Buchs neben den rein physiologischen Konstanten auch auf die sozialen zurück. Das Trennende zwischen den verschiedenen Menschengruppen verortet er nicht nur in den offensichtlichen ethnischen Unterschieden, der Hautfarbe, Größe oder Gesichtsform, sondern in ganz entscheidendem Maß bei den Kulturen, Religionen und Ideologien. Interessanterweise stellt er die Menschwerdung des Affen in einen ursächlichen Zusammenhang mit dem Beginn des großen Eiszeitalters, das in einer beständigen Pendelbewegung alle Landlebensräume der Erde mal in die eine, dann wieder in die andere Richtung veränderte. Der Meeresspiegel schwankte dabei ohne Weiteres um 100 Meter und mehr, Wälder und Wüsten breiteten sich aus oder verschwanden fast völlig. Die ausgedehnten Steppenlandschaften der Eiszeiten ermöglichten erst einen ungeheuren Wildreichtum, wie er in geschlossenen Wäldern nicht möglich ist. Und während die schiere Masse toter Großtiere – ob von Räubern erbeutet oder sonstwie auf den Wanderungen verendet – aus einst aktiv jagenden Adlern die passiv lauernden Geier entstehen ließ, so entwickelte der Mensch laut Reichholf den aufrechten Gang und die passende Sehstärke. Er musste den Horizont und den Himmel über sich im Blick behalten, um die über einem frischen Kadaver kreisenden Geier zu bemerken. Gerade um an frisches Fleisch zu gelangen, habe der Mensch sich zu einem hervorragenden ausdauernden Läufer entwickelt. Und eben jene Versorgung mit tierischen Proteinen wiederum, an denen es den modernen Menschenaffen in der Regel mangelt, hat wiederum erst das Wachstum und den exorbitanten Energieverbrauch des menschlichen Gehirns ermöglicht. Die großen kognitiven Leistungen aber waren eine Voraussetzung, um den Großtieren auf ihren weitläufigen Wanderungen zu folgen und sich in einer komplexen Umwelt sicher zu orientieren. Ein weiterer evolutionärer Vorteil gegenüber den übrigen Savannenbewoh nern: Löwen mit Jungtieren sind an einen engen Radius gebunden, Menschen aber können ihre Kleinkinder problemlos über weite Strecken als Traglinge mitnehmen. Spannend auch diese direkte Folge der „Klimaschaukel“: Breitete sich in Warmzeiten der Tropengürtel wieder aus, drangen gefürchtete Seuchen wie Schlafkrankheit oder Malaria ebenfalls in neue Gebie- te vor. Und da Menschen in ihrer Nacktheit besonders leichte Moskito-Opfer sind, dürften gerade in den Warmzeiten die Menschenwanderungen in gemäßigtere Regionen ausgelöst worden sein. Bereits berücksichtigt in der Schilderung der Auswanderungswellen werden auch die jüngst entdeckten Denisova-Menschen, deren Erbgut sich in kleinen Teilen bei den Tibetern erhalten hat und das für deren Höhenanpassung wesentlich ist; zu einer noch größeren sogar in Völkern auf Neuguinea. Deutlich durchblicken lässt der Autor die grundlegende Skepsis gegenüber der eigenen Spezies. So sind die Spuren des Neandertalers im Erbgut von Europäern und Asiaten ebenso gering wie die der Deniso- va-Menschen bei modernen Asiaten, was doch stark darauf verweist, dass Homo sapiens in der Vergangenheit andere Menschengruppen in ähnlicher Weise als andersartig abgelehnt, ausgegrenzt und verdrängt hat, wie es bei seinen internen Gruppenkonflikten bis heute trauriger Alltag ist. Der zweite Teil, der große Abschnitt zur Evolution, befasst sich unter anderem mit der Frage, warum ausgerechnet der Wolf zum Hund domestiziert und fortan zum besten Freund des Menschen wurde. Dabei stellt Reichholf auch heraus, wie lange dieser Prozess gedauert haben muss und warum die Gen-Analysen zum Zeitpunkt der Domestizierung mit größter Vorsicht zu genießen sind. Was dieses Buch so herausragend macht, ist der stete Wechsel zwischen den großen erdgeschichtlich biologischen Linien und den ganz konkreten, anschaulich spannenden Beobachtungen aus der Umwelt. Da folgen der Plattentektonik Marienkäfer, Singdrosseln und Gehäuseschnecken aus dem Garten. Wir erfahren etwas über neue Dinosaurier-Fossilien aus China, die Entstehung von Federn und die sonderbar konstruierte Lunge der Vögel. Wir bekommen eine schlüssige Antwort darauf, warum eben jene so lange die Welt „beherrschenden“ Dinosaurier plötzlich verschwanden, Vögel und Krokodile den apokalyptischen Meteoriteneinschlag vor 66 Millionen Jahren aber überlebten, neben den Säugetieren, die – auch das wird nicht ausgelassen – bis dahin schon eine ganze Weile unterwegs waren, allerdings mehr Ähnlichkeit mit den heutigen Ratten hatten. Der Autor nimmt den Leser sogar noch weiter mit zurück – in eine Welt gigantischer Sumpfwälder, die später zu Erdöl und Steinkohle wurden und die von riesenhaften Libellen bevölkert waren, in eine Atmosphäre mit deutlich höherem Sauerstoff- und doppelt so hohem Kohlendioxidgehalt. Nicht etwa ein ominöses „Gleichgewicht“, sondern vielmehr beständiger Wandel und Un-Gleichgewichte haben das Leben erst zu den faszinierenden Formen aufgefächert, die es annimmt. Inwieweit nicht allein der Gen-Code, sondern längst die menschliche Kultur und Technik eine entscheidende Größe geworden sind, beleuchtet der letzte Abschnitt des Buchs. Hier ist die Evolution der Technik berührt, die sich immer schneller dreht: vom Faustkeil aus grauer Vorzeit bis zur Maschinenpistole von heute. Und angesichts einer sich weiter rasant globalisierenden Welt, des alles durchdringenden Internets und der modernen Völkerwanderungen, die die kulturellen und religiösen Unterschiede ja keineswegs nivellieren, sondern in Form neuer Konflikte sogar vermehrt zu Tage treten lassen – ausgerechnet hier verliert der Biologe die Hoffnung nicht, sondern fordert vielmehr dazu auf, bei allen Risiken und jeder Fortschrittsskepsis doch vor allem die immensen Chancen als solche wahrzunehmen. Ein kurzweiliges, toll gestaltetes und lehrreiches Buch über die Evolution! Wer in das Thema einsteigen möchte, dem öffnet sich hier eine Fundgrube, die zu weiterer Lektüre anregt. Für Kinder und Jugendliche dürfte es – einfach verständlich, Fachbegriffe hervorgehoben, wunderschön bebildert – wenig Besseres auf dem Markt geben. Alexander Pentek