Dieser Aspekt verschafft dem Buch ein Alleinstellungsmerkmal. Wulf zeichnet das Bild eines modern denkenden und agierenden Naturwissenschaftlers mit umfassenden geisteswissenschaftlichen Interessen, der als erster und fast schon letzter Forscher mit einer vom Menschen noch kaum berührten Umwelt konfrontiert wurde. Ihr gelingt die Beschreibung eines lebenslang nach Erkenntnissen suchenden, fast besessenen Menschen, der auch vor Selbstversuchen nicht zurückschreckte.
Dazu gehörten immer wieder Experimente mit der Elektrizität. Humboldt setzte sich starken Stromschlägen aus und protokollierte mi­nutiös die Auswirkungen auf seinen Körper. Als junger Wissenschaftler hörte er bei einem Aufenthalt in Jena von zwei durch Blitze getöteten Menschen. Er interessierte sich sofort für die Begut­achtung der Leichen. „Humboldt genoss jede Minute ­seiner grausigen Untersuchung“, und wird von der Autorin zitiert: „Freilich kann ich nicht existiren, ohne zu experimentieren.“
Dieser Satz beschreibt Humboldts Hauptstreben kurz und knapp. Seine Obsession leitete ihn auch durch seine „amerikanische Reise“, und diese Reise prägte ihn für sein gesamtes Leben.
Drei Jahrzehnte nach seinen Erlebnissen wird ein weiterer junger Naturforscher eine mehrjährige Reise um die Welt antreten, die ihn nachdrücklich beeindrucken soll. Es mutet fast unheimlich an, dass Charles Darwin sein wichtigstes Buch über die Entstehung der Arten in Humboldts ­Todesjahr veröffentlicht …
Doch gehen wir zurück
in den Juli 1799. Nach 41 ­Tagen Überfahrt erreichen die Jungforscher Venezuela. „Der Himmel war von unwirklichem Blau und die Luft glasklar. Es herrschte glühende Hitze, und das Licht blendete. Sofort nachdem
er von Bord gegangen war, steckte Humboldt ein Thermometer in den weißen Sand: 37,7 Grad Celsius, notierte er.“
Wie benommen von den vielfältigen Eindrücken bewegen sich Humboldt und Bonpland durch die ersten Wochen. „Alles war so neu und spektakulär. Die Vögel, Palmen und sogar die Wellen trugen den großartigen Stempel der tropischen Natur. Es war der Anfang eines neuen Lebens – fünf Jahre, in denen Humboldt sich vom neugierigen und begabten jungen Mann zum bemerkenswertesten Naturforscher seines Zeitalters entwickelte. Hier begann er, die Natur mit Verstand und Herz zu erleben.“
Und schnell trat eine Grundhaltung zutage. Humboldt sammelte zwar fleißig Pflanzenproben und zeichnete Tierarten, verharrte aber nicht in taxonomischen Fragen, sondern suchte nach dem Eindruck des „Ganzen“. Er bezeich­nete sich selbst als Sammler von Ideen, nahm jeden neuen Eindruck auf und verglich ihn mit den schon bekannten Daten und Erfahrungen. So wurde er quasi nebenbei zum Schöpfer der Pflanzengeografie, da er intuitiv die Verteilung von Pflanzenarten und -formen entsprechend den Umweltbedingungen erfasste und dokumentierte.
Bonpland und ihn zog es in die großen Flusssys­teme Südamerikas, unter Strapazen bereisten sie den Orinoco. Allein die Anfahrt von Caracas war beschwerlich.
Dennoch nutzte Humboldt jede Minute zum Erfassen von Daten. Er hatte ein großes Ziel, er wollte die Verbindung zwischen Orinoco und Amazonas finden! Letztlich kam er hier zu spät, denn der Río Casiquiare als Verbindung der beiden Ströme war in der Region schon bekannt. Doch das war keine große Enttäuschung. Humboldt begann sofort mit der Kartografie des Gebiets.
Letztlich kehrten er und Bonpland wohlbehalten zurück an Venezuelas Küste. Mehrfach waren die beiden Forscher nur knapp dem Tod entronnen, doch das hielt sie nie lange auf. Noch bis 1804 zogen sie durch Süd- und Mittelamerika, überquerten die Anden und stellten fast nebenbei mit der Besteigung des Chimborazo den Welt­rekord einer Bergbesteigung auf, der lange Bestand haben sollte.
Im Detail und mit vielen Zitaten lässt Andrea Wulf Humboldts Amerikareise wieder lebendig werden.
Aber jede Reise geht einmal zu Ende, und Alexan­-der von Humboldt kehrt in ein von den napoleonischen Kriegen zerrissenes Europa zurück. Er fürchtet, den wissenschaftlichen Anschluss verloren zu haben, und hat noch keine Idee, wie er weiterarbeiten will.
Doch diese Sorge ist ganz unbegründet. In Paris wird er begeistert empfangen. Durch seine zahlreichen Briefe und vorausgesandten Sammlungen hatte er schon unendlich viele „Follower“. Ich benutze absichtlich diesen Begriff, denn moderne Kommunikationstechniken hätten Humboldt sicher gefallen.
Nun beginnt ein rastloses Forscherleben, das ihn immer wieder nach Paris führt. Auch seine Verpflichtungen gegenüber dem preußischen Staat erfordern sein Engagement. So wird er sogar zum Diplomaten, um in Frankreich zu vermitteln. Sein gesamtes Vermögen setzt er ein, um seine Forschungsergebnisse zu publizieren und somit die Wissenschaften voranzutreiben.
Die Autorin versucht, Humboldts Bedeutung für die moderne Ökologie neu zu definieren. Dabei schießt sie manchmal ein wenig über das Ziel hinaus. Bei ­aller Weitsicht war Humboldt ein Kind seiner Zeit.
Auch die Darstellung seiner Verbindung zu den politischen Entwicklungen wirkt mitunter etwas bemüht. So fragt man sich, was der lange Abschnitt über Simón Bolívar und dessen Bedeutung für die Entwicklung in Südamerika in diesem Buch soll.
Gelungen dagegen sind die Schilderungen der Bekanntschaft von Humboldt mit Goethe und die Erwei­terung des Humboldt’schen Erbes durch Haeckel, Muir und andere Forscher des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
Insgesamt ist Wulfs Werk unbedingt lesenswert. Es zeigt, was einzelne Menschen erreichen können und welche Bedeutung Humboldt bis heute hat. Er warnte immer wieder vor dem zerstö­rerischen Umgang mit der Natur. Hoffen wir, dass es Homo ­sapiens gelingt, diese Botschaft umzusetzen!
Hans-Peter Ziemek