margin-right: 20px; margin-bottom: 10pxVon Josef H. Reichholf. 196 Seiten, 34 Abbildungen, gebunden. Matthes & Seitz, Berlin, 2017. ISBN 978-3-95757-462-6. 28 €

Sie sind der treue Bewacher des Hauses, die eigenwillige Mäusefängerin, das Schmu­se­tier mit weichem Fell oder der Lieferant von Frühstücksei und eingeschweißtem Supermarkt-Steak.
Haustiere – der Städter denkt dabei an Hund und Katze und vielleicht an die Hamster oder Meerschweinchen im Kinderzimmer. Vermeintlich bestens vertraut, erscheint uns ihre Gegenwart geradezu selbstverständlich, keiner weiteren Begründung bedürftig.
Neben den „echten“ Hausgenossen glaubt man sich auch mit der breiten ­Palette an domestizierten Nutztieren in der Landwirtschaft gemeinhin gut auszukennen. Doch was weiß man – bei Licht betrachtet – wirklich über Pferd, Rind, Huhn und Schwein? Und warum wurden ausgerechnet sie mit großem Aufwand über viele Generationen aus den Wildformen gezüchtet? Wann und unter welchen Umständen geschah das? Wie kommen Kaninchen, Hamster und Meerschwein ins Kinderzimmer oder die für Wettflüge abgerichtete Taube in den Schlag unterm Dach? Und was trennt nun wiederum Haus- und Wildtier tatsächlich voneinander?
Der renommierte Zoologe Josef H. Reichholf hat in der sehr ambitionierten und hochwertig gestalteten Reihe „Naturkunden“ des Matthes & Seitz-Verlags einen ungewöhnlichen Überblick über die Haustiere vorgelegt. Die ausgesuchten Illustrationen bestechen durch eine lebensechte Darstellung und wirken zudem angesichts der allgegenwärtigen Fotoflut angenehm zurückgenommen, auf das Wesentliche beschränkt.
So unterschiedlich die domestizierten Arten auch sind, begleiten sie den Menschen doch seit unzähligen Generationen, manchmal seit vielen tausend Jahren, und versorgen ihn mit Fleisch, Milch oder dem Grundstoff wärmender Bekleidung. Sie bieten Schutz gegen Bedrohungen durch andere Menschen oder Tiere. Manchmal sind sie schlicht eine angenehme Gesellschaft.
Nicht selten aber werden Haustiere zur Projektions­fläche eigener Idealvorstellungen und Wünsche – und dabei in ihrem eigenen, tie­rischen Charakter und in ­ihren Bedürfnissen sehr zweifelhaft behandelt. Das sieht Reichholf bei den zum Partnerersatz gemachten ­Kuscheltieren ebenso wie bei den hochgezüchteten Schweinen der industrialisierten Landwirtschaft, die nur noch in der Rekordzeit von einem halben Jahr zur Schlachtreife gemästet werden. Aus den aufgeweckten, intelligenten und sozialen Schweinen, die in unseren Breiten einst zur Mast in
die nahrungsreichen Eichen- und Buchenwälder getrieben wurden, sind unförmige, draußen überhaupt nicht mehr lebenstüchtige Fleischfabriken auf vier Beinen geworden.
Und der schmale Grat zwischen der Nutzung und dem Missbrauch des Tieres wird an vielen Stellen deutlich. Wie sehr das Antlitz der Welt durch die riesigen Viehbestände geprägt wird, etwa durch die dort fremden Schafe in Australien und Neuseeland, und welche Mengen Treibhausgase sie ausstoßen, ist natürlich bekannt. Der verheerende Einfluss der – noch dazu sehr leicht verwildernden – Ziegen schon weniger.
Dass der Fleischverbrauch der Hunde und Katzen in Deutschland dem der Menschen des kompletten Nachbarlandes Österreich entspricht und allein die Hunde und Katzen der USA – als eigene Nation berechnet – als Verbraucher die Nummer fünf in der Welt ­einnähmen, lässt den Zoo­logen nicht ganz zu Unrecht ein paar Karottenscheiben ins Futter seines eigenen Hundes mischen.
Reichholf findet durchaus deutliche Worte für das, was im Umgang mit Haus­tieren seiner Ansicht nach falsch läuft. Doch wird er ­dabei nicht belehrend und streut immer wieder schöne Anekdoten ein – wie über ­jenes Münchener Wildschwein, das jeden Tag zur selben Zeit eine Waldgaststätte besuchte, um sich eine Flasche Bier abzuholen und sie kunstfertig und mit sichtlichem Vergnügen zu leeren.
Bei fast allen beschriebenen Tieren stellt sich die Frage, wie sie begann, die Gemeinsamkeit mit dem Menschen, das Verlassen der Wildnis, die Umstellung auf ein Leben, das vom Menschen kontrolliert und gerade bei der Partnerwahl bis zum Exzess fremdbestimmt wird. Obwohl der Hund uns von allen tierischen Gefährten am längsten begleitet und sich evolutionär bis hin zur Angleichung der Relation von Gehirngröße zu Körpermasse dem Menschen angenähert hat, ist nach wie vor heftig umstritten, wann und wo der Wolf nun wirklich zum Hund wurde.
Von der romantisierenden bis etwas verstörenden Vorstellung, Menschenfrauen hätten verwaiste Wolfswelpen gesäugt und damit die Initialzündung zur Hundwerdung gegeben, ist man längst abgerückt. Vielmehr drängt sich beim Hund das am deutlichsten auf, was auch bei fast allen anderen Haustieren diskutiert und von Reichholf sehr anschaulich beschrieben wird: Die selbst gewählte Annäherung des Wildtiers an den Hominiden, um von dessen (Jagd-)Abfällen oder Schutz zu profitieren.
Dieses Begleiten aus der Halbdistanz könnte etwa beim Hund viele Jahrtausende gedauert haben. Nicht nur die Dingos Australiens zeigen, wie erfolgreich Haushunde wieder verwildern können. Selbst im neuen Jahrtausend lebt ein beträchtlicher Teil der Hunde weltweit nicht als verzärtelte Wohnungsgenossen, sondern als Straßenhunde in einer sehr ambivalenten Form nebenher.
Auch das ist ein roter
Faden in Reichholfs Buch: Kann man Haus- und Wildtier überhaupt sauber von­einander scheiden? Immer wieder verschwimmt die Trennlinie zwischen „domestiziert“ und „wild“. Denn ist eine auf körper­liche Nähe versessene Katze wirklich das auf den „Dosenöffner“ angewiesene Haustier, wenn sie selbst einen Umzug des Halters nicht mitmacht und lieber eigenständig in die alte Heimat zurückwandert, sich jedem Fangversuch widersetzt und ohne jede Not komplett verwildert?
Und nicht völlig überzüchtete Rassen verschiedenster Haustiere sind vielfach verwildert. Ziegen, Rinder, Schweine, Pferde sind nur einige Beispiele. Manche Stadtparkente hat eine bunte Mischung von Haus- und Wildblut in sich, lebt innerhalb der Stadt wild, verlässt sie aber nicht mehr, hat sich an diesen berechenbaren ­Lebensraum angepasst. Ist sie nun Haus- oder Wildente oder irgendetwas dazwischen?
Sind Plagegeister auch Haustiere? – Der besondere Clou des Buchs besteht darin, neben den vom Menschen ausgewählten oder zumindest gezielt auf bestimmte Eigenschaften weitergezüchteten tierischen Begleitern auch jene Mitbewohner zu den „Haustieren“ zu zählen, die man gemeinhin eher als Plagegeister oder veritable Schädlinge loszuwerden versucht: die Mäuse und Ratten, Spinnen, Fliegen, Schaben oder die ­rabiaten Untermieter Steinmarder und Waschbär.
So ist Kassel die Hauptstadt der Waschbären, Ber­-lin jene der Fledermäuse. Längst sind die strukturreichen und jagdfreien Großstädte „wilder“ als das sie umgebende Land – oder die Wildtiere vielleicht einfach „selbst-domestizierter“, als man glauben möchte?
Am Ende zählt der Autor gar Parasiten wie Läuse und Wanzen dazu. Schüttelt man bei der ersten Durchsicht der Kapitel darüber noch entschieden den Kopf, besticht diese Idee doch bei der ru­higen Lektüre umso mehr.
Reichholf beschreibt die Ausrichtung und Speziali­sierung dieser ungewollten Begleiter sehr gut. Und wer hätte jemals über Kleiderlaus, Kopflaus, Kleidermotte, Wanze, Hausstaubmilbe & Co. als spannendes Tier und nicht zuerst als Gegenstand der Bekämpfung nachgedacht? Eine tiefgreifende Sympathie wird man für das „Ungeziefer“ beim Lesen sicher nicht entwickeln, aber einer ganz eigentümlichen Faszination kann man sich schwer entziehen. Und wer hätte gedacht, dass man bei manchem Plagegeist wie der Hausratte oder der Tapetenmotte fast schon über Schutzmaßnahmen nachdenken müsste?
Die Kapitel zu den einzelnen Arten oder Gruppen sind knapp und übersichtlich gehalten. Ein kleiner Wermutstropfen: Ausgerechnet die Wasserwelt im Garten und Wohnzimmer wird komplett ausgespart. Dabei haben Menschen seit Jahrtausenden eine beträchtliche Energie darauf verwandt, Fische in Teichen und Bassins zu pflegen – ob als Nahrungsquelle oder zur „Zierde“. Psychologisch und evolutionsbiologisch hätte diese Beziehung sicher einiges Material geliefert.
Manchmal würde man sich auch noch ausführ­lichere Erklärungen, stärkere Vertiefungen wünschen. Das Werk ist jedoch insgesamt ein guter Überblick auf dem derzeitigen Stand des Wissens – und immer wieder tauchen überraschende Gedanken und Theorien auf, die gerade ein unkonventioneller Autor wie Reichholf sehr anschaulich zu begründen vermag. Hier erkennt man den denkfreudigen Zoologen, den argumentationsfreudigen Außenseiter, der in der Vergangenheit schon den Ursprung der Schönheit ergründet oder die Arten­vielfalt als Ergebnis des ­Mangels und keineswegs des Überflusses begriffen hat.
Besonders empfehlenswert ist „Haustiere“ sicher als fundierter Einstieg für Kinder und Jugendliche, die einerseits nicht überfordert, andererseits aber hinreichend herausgefordert und zu originellen Gedanken über unsere engsten Begleiter angeregt werden. Die Älteren bekommen reichlich Gelegenheit, alte Gewissheiten und überholtes Schulwissen zu prüfen – und nicht selten über Bord zu werfen.

Alexander Pentek