Der mittlere Rio Xingu ist tot; das ist nicht ganz korrekt, denn noch lebt er ja. Aber dieser Strom mit seinen fantastischen Biotopen und Harnischwelsen, wie wir ihn aus der Aquaristik der letzten zweieinhalb Jahrzehnte kennen, wird sterben. Der Belo-Monte-Staudamm wird gebaut, trotz aller Proteste. Die Einsprüche der Bevöl­kerung, auch der indigenen, deren Lebensräume durch den Staudammbau teilweise verschwinden werden, und auch die Einwände der bra­silianischen Wissenschaftler haben nichts genützt, genauso wenig die internationalen Proteste.
Was also tun? Eile ist ­geboten; die Habitate vieler Arten – auch wissenschaftlich noch nicht beschriebener – werden verschwinden und mit ihnen wahrscheinlich viele dieser Spezies. Brasilianische Ichthyologen arbeiten nun vermehrt und verstärkt am Rio Xingu, um zu retten, was noch zu retten ist – aus wissenschaftlicher Sicht. Das heißt: Bestandsaufnahmen, Beschreibungen, Sammeln ökologischer Daten. In ein paar Jahren
ist es dafür zu spät.
Mit Daten aus solchen Arbeiten ist auch dieses Buch entstanden, über die Harnischwelse des mittleren Rio Xingu. Das sind jene Loricariiden, die uns Aquarianer in den vergangenen Jahrzehnten wohl am meisten fasziniert haben; aus dem Xingu stammen so wunderschöne Welse wie der Zebraharnisch­wels (Hypancistrus zebra) oder die goldgelb gepunkteten Baryancistrus-Arten.
In diesem Buch sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die man über die Loricariiden des mittleren Xingu besitzt, zusammengetragen. Aber auch die aquaristischen Erfahrungen werden nicht außer Acht gelassen und durchaus gewürdigt.
Fast zehn Jahre nach
der Blüte des Harnischwels-Booms erscheint nun also ein Buch, auf das wir Pleco-Fans ewig gewartet haben, verfasst von Wissenschaftlern mit Daten über einen Teil der beliebtesten L-Welse. Vor zehn Jahren wäre dieses Buch in der Aquaristik-Szene ein Renner gewesen.
Die Autoren gehen in einer längeren Einleitung vor allem auf die Problematik der Staudamm-Projekte ein; ein Punkt, auf den die Ichthyologen Brasiliens seit Jahren immer wieder hinweisen, dem sie inzwischen sogar in vielen taxonomischen Publikationen einige Zeilen widmen. Alle sind sich der biologischen Katastrophen, die hier heraufbeschworen werden, bewusst; und keiner kann etwas dagegen tun.
Das ist ebenfalls Brasi­lien – nicht nur die fantas­tische Natur, sondern auch eine Gesellschaft, deren kurzsichtige Politik von Korruption durchsetzt ist und die vor allem nach wirtschaftlichen Interessen (des Einzelnen) handelt; alle wissen und beklagen es, aber anscheinend kann niemand etwas daran ändern. So ist es für Großkonzerne ein Leichtes, ihre Interessen durchzusetzen – und vor allem im Interesse der Konzerne liegt der Bau der Riesenkraftwerke an zahlreichen brasilianischen Flüssen.
Nach der sehr lesenwerten Einleitung folgen Kapitel über die Naturgeschichte des Xingu, über die unglaubliche Diversität der Fauna dieser Region, über mögliche Wege der Artentstehung und Hybridisierungen zwischen einzelnen Spezies (und Populationen) – und sogar ein eigenes Kapitel über das L-Nummern-System der DATZ.
Sie lesen richtig, Ichthyologen beachten und akzeptieren die L-Nummern! Das kannte man vor ein paar ­Jahren noch ganz anders. ­Erstaunlicherweise verlieren die Autoren, ebenfalls bis vor kurzem unüblich, kein einziges schlechtes Wort über die L-Klassifizierung, loben sie sogar als „extremely useful“ (für den Export).
Vor dem Hauptteil des Buches, in dem die einzelnen Welse vorgestellt werden, erscheint noch ein Inhaltsverzeichnis mit allen vorgestellten Gattungen, Arten und Formen.
Auf fast 150 Seiten werden anschließend alle bekannten beschriebenen und noch nicht beschriebenen Arten und Formen von Harnischwelsen, die im mittleren Xingu vorkommen, vorgestellt. Dabei handelt es sich nicht nur um Arten aus der Loricariiden-Unterfamilie Hypostominae (einschließlich der bei den Aquarianern so beliebten Ancistrini, zu denen ja die begehrtesten Gattungen zählen), sondern auch aus den Unterfamilien Hypop­topo­ma­tinae (Ohrgitterharnisch­welse) und Loricari­inae (Hexenwelse). Zu jeder Art oder Formengruppe werden Fotos, Zeichnungen und Landkarten mit Fundorten präsentiert. Die brasilianischen Populärnamen fehlen ebenso wenig wie Erklärungen der wissenschaftlichen Namen und eventuelle L-Nummern, alles – wie das gesamte Buch – zweisprachig, portugiesisch und englisch. Für L-Wels-Liebhaber ist dieses Kapitel eine ergiebige Quelle von Fakten und Daten, wie sie in derart geballter Form meines Wissens noch nie geboten wurden.
Wie man es in einer von Wissenschaftlern verfassten Publikation erwarten kann, schließt ein ausführliches ­Literaturverzeichnis dieses Büchlein ab; so soll es sein.
Nun halten wir also ein Werk in Händen, das rückblickend auf die letzten 25 Jahre alle verfügbaren Daten zu den Xingu-Harnischwelsen präsentiert, und zwar
in einer kompakten und ­wissenschaftlich fundierten Form, nach der wir immer gelechzt haben.
Fast 25 Jahre sind vergangen, seit Uli Schliewen, Rainer Stawikowski und Arthur Werner das L-Nummern-System der DATZ erfunden haben. Beinahe ein Vierteljahrhundert L-Nummern, und nun das erste wissenschaftliche „All L-Numbers“, wenn auch nur über die Arten aus einer begrenzten Region.
Leider ist der Boom vorbei. Auch das hat Brasilien geschafft, mit seinen restriktiven Exportbeschränkungen. Die einheimische Aquaristik liegt danieder. Fast al­-le der Aquarienfischfang-Betriebe in Belém, über die der Großteil der L-Welse des Xingu in die ganze Welt versandt wurde, gibt es nicht mehr.
Vor drei Jahren schloss Arthur Werners Firma „Transfish“ in Planegg bei München; im Frühjahr des vergangenen Jahres sperrte „Turkys Aquarium“ in Manaus zu, der Inhaber wollte sich die (ungerechtfertigten) Vorwürfe nicht mehr anhören und die Steine, die man ihm in den Weg legte, nicht mehr wegräumen; er kooperierte übrigens mit brasilianischen Ichthyologen, und die finden über ihn nur lobende Worte, klingen also ganz anders als jene Stimmen, die teilweise in unseren Breiten zu hören waren.
Arjan de Zwart sen., ein Veteran im Fischhandel, Miteigentümer von „Ruinemans Aquarium“ und Se­nior-Chef von „Ruinemans Aquarium – Miami“, erzählte mir vor kurzem bei einem Besuch seiner Anlage, dass vor ein paar Jahren noch so gut wie alle Fische dort aus Brasilien gestammt hätten; nun komme ein Großteil aus Asien. Brasilien sei für den Handel unattraktiv geworden.
Brasilien hat es also geschafft, von der „Zierfisch-Landkarte“ beinahe zu verschwinden – obwohl dieses Land die mit Abstand meisten aquaristisch attraktiven Fische beheimatet. Mit diesem Verlust eines Großteils der faszinierendsten Arten und vor allem mit dem Ausbleiben spektakulärer Neuimporte ebbt auch das Interesse der Liebhaber ab; daran ändert selbst eine neue Liste mit nun sehr zahlreichen, für den Export zugelassenen Fischen seitens der brasilianischen Naturschutzbehörde IBAMA nichts. Aus den Augen, aus dem Sinn – sogar der Chefredakteur dieser Zeitschrift macht ja inzwischen mehr in Libellen als in Buntbarschen und Welsen ...
Aus den Augen, aus dem Sinn – nun werden die Staudämme wirklich gebaut und zahlreiche bekannte und natürlich auch nicht bekannte und noch zu entdeckende Arten für immer von unserem Planeten verschwinden.
Den Aquarianern wurde vorgeworfen, dass sie mit ihrem Interesse zum übermäßigen Ausbeuten der Artvorkommen und damit zum Verschwinden zahlreicher Spezies beigetragen hätten (das ist nur für H. zebra wirklich belegt), sie wurden zum Sündenbock gemacht. Längst hat ihr Interesse weltweit an den Fischen Brasiliens abgenommen. Nun werden die Staudämme also gebaut und ganze Regionen damit wirklich zerstört. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Aber jetzt gibt es ja die­-ses wunderschöne Büchlein, das uns zumindest an die Harnischwelse einer kleinen Region erinnert, die so, wie wir sie kennen und lieben gelernt haben, bald nicht mehr existieren wird; sozusagen ein Requiem von brasilianischer, von wissenschaftlicher Seite.
Wenn Sie die Möglichkeit haben, liebe Leser, besorgen Sie sich dieses Büchlein! Sie werden es im normalen Handel nicht finden; am besten wenden Sie sich per E-Mail an den Erstautor: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein..
Autor: Walter Lechner