„Das große Fressen“

Klaus Anger erinnert sich in „Biologische Anstalt Helgoland 2009 – auf Helgoland seit 50 Jahren“ an seine Anfänge.

Es ist Ende 1975. Drei Monate nach meiner Promotion, nur drei Wochen nach meinem Arbeitsbeginn als experimenteller Meereszoologe an der BAH, gelingt mir der erste Durchbruch in meinem neuen Arbeitsgebiet. Es handelt sich um einen Test des amateurmedizinischen Mottos „Viel hilft viel“, relevant für die experimentelle Forschung – jedenfalls für meine. Dennoch beschließe ich, meine neuen Erkenntnisse vorerst nicht zu veröffentlichen. Dies soll nun endlich, fast 34 Jahre später, hier nachgeholt werden.

Nachdem ich als gelernter Feld- und Formol-Biologe von Kiel nach ­Helgoland gekommen war, sollte ich jetzt Meerestiere im Labor am Leben erhalten, sie nachzüchten, ihre Entwicklung studieren. Zum ersten Objekt meiner experimentellen Anfängerübungen wurden Archianneliden (als primitiv angesehene Meeresborstenwürmer), die figürlich den Kegelrobben ähneln, aber auffällig kleiner sind (weniger als einen Millimeter lang).

Schon bald krochen kleine, fette Würmer in Glasschalen umher und ­legten durchsichtige Kokons ab, die gleichzeitig große sowie winzig kleine Eier enthielten. Daraus entwickelten sich träge, dicke Weibchen und quirlige Zwergmännchen. Letztere begatteten bereits innerhalb des Eikokons ihre eigenen Geschwister im zarten Babyalter – merkwürdige soziale Zustände, die meine wissenschaftliche Neugier entfachten.

Möglicherweise inspiriert durch die kontroverse Diskussion über den damals gerade in den Kinos laufenden Film „Das große Fressen“ mit Marcello Mastroianni und Michel Piccoli interessierte ich mich brennend dafür, ob und gegebenenfalls wie Fortpflanzung, Geschlechtsdifferenzierung und Entwicklung meiner Würmchen durch die Ernährung beeinflusst werden könnten. So testete ich als Laborfutter lebendes Phytoplankton, Algenpulver und gefriergetrocknetes, gemörsertes Miesmuschelfleisch.

Eines frühen Morgens – ich wollte gerade nach meinen Tieren und überhaupt nach dem Rechten schauen – stand plötzlich ein ebenso seltener wie hoher Besuch in der Labortür: Professor Dr. Otto Kinne, auch bekannt als „der schöne Otto“, der Direktor der Gesamt-BAH (einschließlich der damaligen Standorte Hamburg und List), berühmter Meereszoologe, Buchautor, Zeitschriften-Herausgeber – und eben mein oberster Chef. Er wollte verständlicherweise einmal sehen, woran „der Neue“ eigentlich arbeitete, wie es bei ihm voranging.

Stolz zeigte ich meine Regale mit Kulturschalen voller Kleinstwürmer, griff willkürlich eine Petrischale heraus – es war eine mit der neuen, nahrhaft riechenden Futtersorte „Miesmuschelpulver“ – und stellte sie unter ein Binokular. Bevor ich etwas einstellen konnte, regelte Professor Kinne bereits höchstpersönlich mit geübten Mikro­skopiker-Händen Vergrößerung und Schärfe und begann, die Petrischale unter dem Objektiv hin und her zu schieben und ihren Inhalt sorgfältig zu studieren.

Ich freute mich natürlich über dieses ausgeprägte Interesse meines illustren Besuchers. Nachdem er genug gesehen hatte, unterhielten wir uns noch eine Weile über die Tiere und ihre seltsamen Sexualgewohnheiten, bevor er sich freundlich verabschiedete, nicht ohne mir weiterhin viel Erfolg gewünscht zu haben. Noch im Hinaus­gehen gab er mir den Rat eines erfahrenen Experimental-Zoologen mit auf den Weg, sparsam mit dem Futter umzugehen. „Na klar!“, versicherte ich und bedankte mich für den gut gemeinten Tipp.

Endlich konnte ich nun selbst nachschauen, ob die Würmer das Miesmuschelpulver auch mit Appetit verzehrt hatten und ob sie davon inzwischen noch fetter geworden waren. Aber was ich im grellen Licht der Mi­kroskop-Lampe vor mir sah, verursachte Hitze- und Kältewellen, meine Gesichtsfarbe oszillierte vermutlich zwischen Wurmleichenblass und Bordeauxrot, wie bei einem irritierten Tintenfisch: Sämtliche Weibchen lagen reglos in einer schmierigen Masse, weißliche, aufgedunsene und teilweise aufgeplatzte Bäuche vorwurfsvoll dem Betrachter entgegengestreckt – sie hatten sich totgefressen!

Die Zwergmännchen trugen zu diesem Bild des Grauens nur deshalb nichts bei, weil sie sich bereits in dem Bakterienbrei aufgelöst hatten. Mit Entsetzen wandte ich den Blick vom Okular ab – und instinktiv zur Tür hin. Aber Professor Kinne kam nicht mehr zurück, um mich im Bedarfsfall zu reanimieren, auch entdeckte ich kein Loch im Boden, in das ich mich in ­diesem Augenblick am liebsten verkrochen hätte.

Noch heute bewundere ich die souveräne und kollegiale Art, mit der Otto Kinne das Horror-Szenario kommen­tarlos überging, ohne die Miene zu verziehen. Miesmuschelpulver und ähnliche Fertiggerichte verschwanden bald von der Speisekarte, und noch heute denke ich im experimentell meereszoologischen Alltag oft an diese ebenso früh wie schmerzlich erlangte Erkenntnis, dass viel nicht immer viel hilft, sondern dass weniger manchmal mehr ist.

„Das große Fressen“ sah ich mir übrigens nie im Kino an.