Betritt man die Pausenhalle der Hansaschule in Gelsenkirchens Stadtteil Bulmke-Hüllen, fällt einem das mit bunten Malawisee-Fischen besetzte Aquarium sogleich ins Auge. Aber es ist mehr als „nur“ ein Blickfang. | Von Rainer Stawikowski

Wann genau mir dieses Aquarium zum ersten Mal auffiel, kann ich nicht genau sagen. Es war jedenfalls anlässlich einer Bundestags- oder Landtagswahl, denn seit einigen Jahren ist die Hansaschule, wenige hundert Meter von der DATZ-Redaktion entfernt, das Wahllokal unseres Wahlbezirks.

Dort steht es also, dieses mit Malawisee-Buntbarschen und Kongosalmlern besetzte Becken. Weder ist es ungewöhnlich groß (rund 200 Liter Inhalt, 120 Zentimeter lang) noch in irgendeiner Weise spektakulär eingerichtet („klassische“ Steinaufbauten) oder technisch ausgestattet (Unterschrank mit Topffilter, Abdeckhaube mit zwei T5-Röhren), dennoch ein Blickfang – ja, sogar mehr als das.

Weitere Wahltermine folgten und damit erneute Besichtigungen des Aquariums. Dabei bemerkte ich, dass das Thema – Malawisee – zwar blieb, doch der Fischbestand geringfügig wechselte. Lebte beim letzten Mal nicht eine Gruppe Pseudotropheus demasoni in dem Becken? Gehörte der prächtige Sciaenochromis ahli damals schon zum Besatz?

Noch etwas fiel mir auf. Das Aquarium hinterließ stets einen gepflegten Eindruck, und der Fischgemeinschaft sah man an, dass sie mit Bedacht zusammengestellt war. Das machte mich neugierig, ich wollte wissen, wer für diesen kleinen Malawisee in der Pausenhalle einer Schule in unserem Stadtteil verantwortlich ist. Außerdem interessierte mich, ob das Aquarium lediglich als „Zierrat“ dient oder ob es in irgendeiner Weise in den Schulalltag mit einbezogen wird. Also erkundigte ich mich.
Der Verantwortliche war rasch ausfindig gemacht – und ein Fototermin ebenso schnell vereinbart. Rainer Siegel lud mich spontan zum nächsten Pflegetermin ein, sodass ich nicht nur das Aquarium mit frisch geputzten Scheiben knipsen, sondern auch drei Schülern beim Wasserwechseln, Vorfilterreinigen und Fische füttern zuschauen und mir ein Bild davon machen konnte, wie geschickt und routiniert Nicolai, Steve und Yusuf dabei zu Werke gingen. Anschließend nahm Rainer Siegel sich noch Zeit, um mir einiges über die Hansaschule, ihre Schüler und sich selbst zu erzählen.

Offiziell und vollständig heißt die Einrichtung „Förderschule – Schwerpunkt geistige Entwicklung“. Bereits in den 1960er-Jahren als Sonderschule für geistig Behinderte in einem anderen Gelsenkirchener Stadtteil gegründet, bezog die Hansaschule vor 14 ­Jahren ihre jetzigen Gebäude. Ursprünglich für 60 Kinder ausgelegt, unterrichten und betreuen die 46 Lehrer und Erzieher mittlerweile mehr als doppelt so viele: 150 Schüler im Alter von sechs bis – in Ausnahmefällen, nach eigens beantragter Schulzeitverlängerung – 25 Jahren durchlaufen hier die Vor-, Unter-, Mittel-, Ober- und Betriebspraxisstufe. Die Ganztagseinrichtung ist von 8.30 bis 15.30 Uhr ­geöffnet, sodass Schüler und Pädagogen einen großen Teil des Tages, einschließlich der Pausen und Mahlzeiten, gemeinsam verbringen (mehr unter www.hansaschule.com). Das Aquarium spielt dabei eine kleine, aber nicht unbedeutende Rolle.

Rainer Siegel ist nämlich nicht „nur“ ausgebildeter Sonderschulpädagoge, sondern auch engagierter Aquarianer, und beides schon seit einigen Jahrzehnten. Seine Liebe zu den Fischen und anderen Wasserbewohnern entdeckte er als Kind, sein erstes Fischbassin war ein gegossenes Vollglasbecken. Schon recht früh wagte er sich an die Pflege von Skalaren heran, legte später aber eine längere Pause ein und fand im Alter von 35 Jahren zurück zu seinem Hobby.

Aus der guten Stube mit dem schmucken Gesellschaftsaquarium, besetzt mit Fischen aus Südamerika und Westafrika, führte ihn der Weg in den Aquarienverein von Wattenscheid-Leithe (den es aber nicht mehr gibt), wo er erstmals den damals aquaristisch noch neuen ostafrikanischen Buntbarschen begegnete. Von da an schlug sein Herz für die Fische der großen Grabenseen, und schon bald war er stolzer Besitzer eines 500-Liter-Beckens, das er noch heute betreibt und das mit Cichliden aus dem Malawi- und dem Tanganjikasee besetzt ist. Hierher stammen – natürlich – die Fische in der Pausenhalle der Hansaschule.

Darüber hinaus besitzt Rainer Siegel zwei (Fertig-)Gartenteiche; einer (3000 Liter Inhalt) ist mit Koikarpfen besetzt, der andere (1000 Liter) bietet Lebensraum für einheimische Sumpf- und Wasserpflanzen, in erster Linie Seerosen, aber auch für „eingewanderte“ Grünfrösche, Berg- und Kammmolche. Gelegentlich fliegt die eine oder andere Libelle vorbei.

Vor diesem Hintergrund – Sonderschullehrer und Ostafrika-Aquarianer „in Personalunion“ – verwundert es nicht, dass in der Hansaschule Malawisee-Buntbarsche schwimmen. Das Becken wird zwar nicht unmittelbar in den Unterricht einbezogen, doch trägt es dazu bei, Rainer Siegels Schülern Sachkunde und praktische Fertigkeiten zu vermitteln.

Deswegen steht das Wort „Aquarium“ auch gleichberechtigt neben weiteren Aufgaben wie „Getränkedienst“, „Spülen“ oder „Abtrocknen“ auf dem wöchentlichen „Ämterplan“. Den donnerstäglichen Pflegedienst kenne ich ja nun aus eigener Anschauung, und mir fällt es nicht schwer, Siegels Worten zu glauben, dass den Schülern dieses Amt mehr Spaß bereitet als manches andere, zumal sie diese Pflicht außerhalb des Klassenraums und obendrein unbeaufsichtigt erledigen „müssen“.
Ein weiterer Punkt, erläutert mir Rainer Siegel, ist ihm jedoch genauso wichtig. Er legt großen Wert darauf, dass seine Schüler Ehrfurcht vor der Natur erlernen. Andere Lebewesen, eben auch die Aquarienfische in der Pausenhalle, seien uns Menschen gleichwertig. Diese Einstellung versucht er, seinen Schülern zu vermitteln; und in erster Linie deswegen hat der regelmäßige Wasserwechsel zu erfolgen – nicht, weil er auf dem Ämterplan steht.

Mittlerweile erlebte das Aquarium schon mehrere Jahrgänge von Schülern – und Rainer Siegel eine Reihe von Begebenheiten, die veranschau­lichen, dass die Kinder und Jugendlichen sich durchaus für das Becken und seine Bewohner interessieren und sich in unterschiedlicher Weise damit auseinandersetzen. Noch nie, betont er, oder höchstens ganz selten machte er dabei schlechte Erfahrungen.

Eines Tages setzte ein Schüler, der das Aquarium eigenverantwortlich pflegen und betreuen durfte, heimlich drei Katzenwelse ein. Es dauerte recht lange, bis diese „Faunenverfälschung“ entdeckt wurde, obwohl der ursprüngliche Fischbestand unübersehbar zurückging. So geschickt versteckten sich die Nordamerikaner wochenlang in der Dekoration.

Ein anderes Mal schaffte es ein weiterer Schüler, das Aquarium ziemlich erfolgreich aus dem biologischen Gleichgewicht zu bringen. „Wasser“ stand damals auf dem Stundenplan des Sachkundeunterrichts, unter anderem ging es um Stoffkreisläufe und Bakterien im Aquarium. Irgendetwas hatte besagten Schüler wohl frustriert oder verärgert. Er rächte sich, indem er den kompletten Inhalt der Futter­dose in das Becken kippte, natürlich an einem Freitagnachmittag. Wie war das doch gleich mit dem Stoffkreislauf und den Bakterien?

Zu einem vergleichbaren Ergebnis, obgleich aus völlig anderen Motiven, gelangte aber auch schon ein Mitglied des Lehrkörpers (Name der ­Redaktion nicht bekannt). Über mehrere Jahre hinweg „kippte“ das Aquarium regelmäßig „um“, und zwar immer zum Ende der Ferien. Des Rätsels Lösung: Der Kollege, der seinen Dienst stets 14 Tage vor Ferienende antrat, meinte es nur gut und versorgte die seit Wochen hungernden Fische endlich einmal „richtig“, nämlich richtig großzügig.

Aber sonst lief immer alles glatt, erfreulicherweise! Denn das Aquarium stiftet in der Schule längst einen weiteren Nutzen über Siegels Klasse hinaus, und zwar – im Wortsinn – als „Blickfang“.

Es hat sich nämlich gezeigt, dass es vor allem auf die jüngeren Schüler außerordentlich beruhigend wirkt. Und so kommt es, dass man an manchen Tagen zwei oder drei der Jüngsten auf ihren Stühlchen davorsitzen und aufmerksam die bunten Fische beobachten sieht. Insbesondere in Stresssituationen oder nach dem erfolgreichen Erledigen einer besonders schwierigen Aufgabe genießen sie es, sich einige Zeit vor dem Becken entspannen zu dürfen.

Zum Schluss erzählt mir Rainer Siegel noch, dass er jetzt 65 Jahre alt ist und im kommenden Jahr in den Ruhestand gehen darf. Meiner Frage, wie es denn dann mit dem Aquarium weitergeht, kommt er zuvor: „Das Becken gehört einfach hierher. Es wird auch nach meiner Pensionierung seinen Platz in der Pausenhalle behalten.“

Hoffen wir’s!