Buchbesprechungen
Ozeanopädie. 21 unglaubliche Geschichten vom Meer
Von Tom Hird. 352 Seiten, gebunden. Terra Mater Books, Elsbethen (Österreich), 2018. ISBN 978-3-99055-004-5. 24 €
Wie hübsch: Ein Autor, der sich im Vorwort dafür bedankt, dass man Geld für dieses Buch ausgegeben hat. Und gleich vorweg: Es lohnt sich! Tom Hird ist Wissenschaftsjournalist, Meeresbiologe, Taucher, engagierter Umweltschützer, und alle seine Talente und Interessen fügt er in diesem Buch aufs Beste zusammen.
Nichts liest sich angenehmer, nichts ist unterhaltsamer und einprägsamer als durchaus anspruchsvol-le Materie, verpackt in ein populärwissenschaftliches Mäntelchen. Da hat nämlich jeder etwas davon: Der Autor weiß, sein Wissen wird weitergetragen, und der Leser hat neben bester Unterhaltung in Appetithäppchen eine nachhaltige Lektüre.
291 Geschichten auf 352 Seiten, schnell ist da errechnet, dass es kurze Betrachtungen sind, Spots, Steckbriefe. Themen, die schon Interesse fordern, aber auch unweigerlich wecken, die jedoch so formuliert und geschrieben sind, dass auch Ozean-Laien sie gut verstehen.
Also, auf in die Welt der Gezeiten, Gischt und Wellen, der Strömungen und Küsten! Langsam begibt sich Tom Hird in die faszinierende Welt der Ozeane, so wenig erforscht, so geheimnisvoll und unentdeckt. Behandeln die ersten Kapitel die Küsten, Küstenmeere und Korallenriffe, geht es dann ins offene Meer, in die Tiefsee und in die Eismeere, zu ihren Bewohnern und ihren Eigentümlichkeiten.
Ab 200 Metern Wassertiefe „wird das Licht immer schwächer und die Fotosynthese ist keine zuverlässige Methode mehr, um das Überleben zu sichern. Die tiefsten Tiefen des Ozeans sind bei schwindelerregenden elf Kilometern …, die durchschnittliche Tiefe liegt immerhin bei beeindruckenden 3,7 Kilometern. Dieser riesige Wasserkörper, der die Tiefsee um-fasst, bietet 95 Prozent des potentiellen Lebensraumes auf dem Planeten“. Stattlich, wir sollten den Ozeanen unbedingt mehr Aufmerksamkeit widmen, sie nicht durch Giftstoffe, Plastik, Überfischung zerstören!
Was da unten alles lebt, schwimmt, sich ernährt und fortpflanzt, das beschreibt Hird anschaulich: den Pazifischen Viperfisch, Alptraum eines jeden Zahnarzts, den Schleimaal, der so viel Schleim produzieren kann, dass die Kiemen seiner Fressfeinde im Nu verstopft sind, den Dreibeinfisch, dessen Flossen wie Sensoren Nahrung aufspüren und sie zum Maul fächern.
Spannend auch das Porträt der Riesenstaatsqualle, die mit ihren langen Tentakeln in der nährstoffarmen Tiefe des Meeres Nahrung findet. „Dieses sehr schlanke, aber enorm lange Lebewesen kann 50 Meter lang werden und hat dadurch Zugang zu einem riesigen Gebiet im Ozean.“
Wer mit so viel Leidenschaft so viele Aspekte und Kurzporträts von Ozean-Bewohnern zusammenstellt, der muss selbstverständlich auch seine Kritik loswerden dürfen, und die ist schließlich mehr als berechtigt:
• Muss der bedrohte Hai, beziehungsweise müssen seine Flossen in der Suppe landen?
Müssen Fische für die Aquaristik-Industrie mithilfe von Zyanid gefangen werden?
• Müssen touristische Taucher ihre Initialen in Korallen ritzen?
• Warum könnten mehr Wale überleben, wenn Schiffe etwas langsamer den Ozean überquerten?
• Interessiert’s, wenn man japanisches Cäsium aus Fukushima in kalifornischem Thunfisch findet?
• Warum wird wertvoller Beifang über Bord gekippt?
• Wie ist die Ozeanversauerung durch viel zu viel Kohlenstoffdioxyd zu stoppen?
Nachdenkliches beendet das Buch, bildet den Abschluss eines gleichermaßen bunten und kritischen Kaleidoskops. Nicht vergessen werden sollte, so Hirds Plädoyer: Die Ozeane – immerhin bedecken sie drei Viertel unserer Erdoberfläche – sind auf lange Sicht der Schlüssel zu unserer eigenen Gesundheit und unserem Überleben.
Ein Buch, mit dem man sich Zeit lassen kann, dem es egal ist, wo Sie mit der Lektüre beginnen. Aber wenn Sie damit anfangen, dann werden Sie interessiert auf diese Reise mitgehen!
Barbara Wegmann
Das Glück ist ein Fisch
Eine Erzählung aus Kolumbien von Melba Escobar de Nogales (ab neun Jahren). 112 Seiten, mit Illustrationen von Elizabeth Builes, gebunden. Baobab Books, Basel, 2018. ISBN 978-3-905804-83-6. 15,90 €
Pedro war so glücklich, dass er nicht mehr in seine Kleider passt. „Jetzt wirst du endlich das Meer sehen.“
Seine Mutter schwärmt von den vielen Farben des Meeres, als sie im Flugzeug auf dem Weg zu einer Insel in der Karibik sind. Aufgeregt ist Pedro, all seinen Mitschülern hat er von der Reise erzählt, aber dann geht ihm plötzlich eine Frage nicht mehr aus dem Kopf: „Mama, warum ist Papa nicht mitgekommen?“
Die Mutter eröffnet dem kleinen Jungen, dass sein Vater fort ist und sie nicht gewusst habe, wie sie es ihm sagen soll. Pedro, wütend, unglücklich, enttäuscht und hilflos, rennt weg, läuft und läuft, ohne Ziel, ohne Orientierung. Sein Schmerz ist groß. „Als das Meer schließlich in der Dunkelheit verschwand, stiegen Pedro die Tränen in die Augen. Er fürchtete sich, aber die Müdigkeit war stärker.“ Die Mutter, in großer Sorge, startet eine Suchaktion.
Große Schrift, übersichtliches Layout, unterhaltsam nicht nur vom Inhalt. Die farblich dezenten Illustrationen von Elizabeth Builes, oft ganzseitig oder kleinere Details aus dem Erzählten aufgreifend, lassen für Fantasie und eigenes Erzählen viel Spielraum.
Im leicht lesbaren Text entwirft die Kolumbianerin Melba Escobar de Nogales in ihrer ersten Geschichte für Kinder eine spannende Szenerie.
Das Schicksal des weggelaufenen Jungen, an einem fremden Ort, alles ist anders als zu Hause, es gibt Seeräuber und Piraten und so viel Neues zu entdecken. Neue Eindrücke, neue Bekanntschaften, wie die zu einem alten Seemann und zu Victoria, einer äußerst gesprächigen Papagei-Dame. Die sitzt so dicht neben ihm, dass ihm ihr ekliger Geruch in die Nase steigt. „Sag mal, badest du nie?“, fragt Pedro mit einem angewiderten Gesicht. „Nein. In den letzten dreihundert Jahren kein einziges Mal.“
Eine ans Herz gehende Geschichte, die von einem großen Schmerz und Verlust erzählt, aber auch davon, welche unerwarteten Wege das Leben einschlagen kann.
Ein sehr liebevoll gestaltetes Buch, das man blind kaufen darf, kommt es doch aus einem Verlag, der sich der Förderung „kultureller Vielfalt in der Kinder- und Jugendliteratur“ verschrieben hat und Geschichten bietet, die man sich unter dem Affenbrotbaum, dem Baobab, erzählt.
Besonders schön wird die Erzählung, wenn man das Nachwort der Autorin liest, die ab und zu einfach mal weg muss, wie sie schreibt. „Zum Beispiel, um mich treiben zu lassen, weil ich die alten Wege schon viel zu gut kenne.“ So war sie selbst auch auf jener Karibikinsel und lernte den alten Seemann kennen, der übrigens weiß, dass „man erst verloren gehen muss, um sich zu finden“. Johnny, so sein Name, habe ihr beigebracht, dass ein Fremder, so fremd er uns auch erscheinen möge, ein Mensch sei, den wir gern haben können, wenn wir ihn nur nahe genug an uns heranlassen.
Eine Erzählung für junge Leser ab neun Jahren, die aber auch bei den erwachsenen Vorlesern nachhallt.
Barbara Wegmann
Das Aquarium – Praktiken, Techniken und Medien der Wissensproduktion
Von Mareike Vennen. 424 Seiten, 72 zum Teil farbige Abbildungen, gebunden mit Schutzumschlag. Wallstein Verlag, Göttingen, 2018. ISBN 978-3-8353-3252-2. 37 €
Eine Kulturwissenschaftlerin legt allen ambitionierten Aquarianern eine wunderbare Beschreibung der ersten 100 Jahre der Aquaristik vor. Sie behandelt den Zeitraum vom Beginn der Meeresaquaristik in England und führt den Bogen über Europa bis nach Nordamerika. Die Beschreibung endet in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg.
Ihre These zu Beginn des Buchs lautet: „Aquarien stellen … einen entscheidenden, bislang wenig beachteten Schauplatz in der Frühgeschichte ökologischen Denkens dar.“ Ein interessanter Ansatz, den Vivarianer ebenfalls immer wieder vertreten, wenn es um die Zukunft ihres Tuns geht. Also haben wir mit diesem Werk einen Blick in die Geschichte vor uns, aus dem wir für die weitere Entwicklung der Aquaristik lernen können.
Bevor man die Anschaffung des Buchs erwägt, muss man sich aber darüber klar sein, dass eine Geisteswissenschaftlerin die Thematik erarbeitet. Es gibt jede Menge Fußnoten, die oft den meisten Platz auf einer Seite einnehmen, das ist ungewöhnlich für naturwissenschaftlich orientierte Leserinnen und Leser.
Dazu kommt ein sozialwissenschaftliches Vokabular, das manchmal gewöhnungsbedürftig ist. „Mikrohistorische Fallstudien“ und die „strukturelle Unabschließbarkeit des Aquariums“ sind erst einmal gedanklich zu verarbeiten. Und wenn das Buch dann noch zwischen „unterschiedlichen Skalierungsebenen oszilliert“, sollte das nicht zum Zuklappen und Zurückstellen in ein Bücherregal führen.
Blättern Sie weiter, und es eröffnen sich neue Horizonte! In Kapitel 1 beginnt es mit der Einrichtung kleiner, abgeschlossener Welten. Die Geschichte von Nathaniel Ward ist eine dieser Fallstudien. Er versuchte, Gläser so zu bepflanzen, dass sie über möglichst lange Zeiträume ohne äußere Einflüsse funktionieren.
Jedes Kapitel trägt eine schöne Überschrift, das zweite heißt „Stabilisieren I“. Die kryptische Bezeichnung wird schnell erklärt. Es geht um den Londoner Chemiker Robert Warington, der die ersten „ökologisch stabilen“ Aquarien erprobte.
Kapitel 3 erzählt die Geschichte des Naturforschers Philip Henry Gosse, dem Erfinder des Meerwasser-Aquariums.
Besonders ästhetisch geht es in dem Kapitel über „Naturkundliche Bildumwelten“ zu. Die Erstellung von Lithografien wurde zum Meisterstück der Vermittlung der neuen Unterwasserwelten an ein breites Publikum. Auch hier war Gosse der Initiator. Einige sehr gut reproduzierte Abbildungen illustrieren dieses Kapitel eindrücklich, für mich besonders schön die „Sammelkarte mit Erdbeerrose“ von der Firma „Liebig Fleischextrakt“ (Tafel 16).
Für einen langjährigen Mitarbeiter an der Entwicklung der DATZ besonders wichtig ist das Kapitel „Rahmen I“. Hier geht es nicht um die ersten Gestellaquarien. Vielmehr wird die Geschichte der ersten Ratgeber und Artikel rund um das Hobby Aquaristik nachvollzogen. Ob dereinst im Jahre 2150 ein elektronisches Essay mit 3D-Denkfiguren die Bedeutung der DATZ ähnlich würdigen wird …?
Weiter geht es in „Stabilisieren II“ mit der fortschreitenden Entwicklung der Aquarientypen und -technik. Der „Durchlüftungsapparat“ auf Seite 223 zeigt dabei den Umfang der Bemühungen, die schon damals Vivarianer auf sich nahmen, um ihre Becken möglichst lange und zuverlässig zu betreiben.
Global wird es im folgenden Abschnitt. Wie ein Krimi lesen sich die Schilderungen, wie die ersehnten Organismen aus ihren angestammten Lebensräumen nach Europa und Nordamerika gebracht wurden.
Ungewöhnlich ist die intensive Betrachtung der Glasproblematik. Geradezu als „Glaskultur“ beschrieben, werden die Schwierigkeiten bei der Herstellung hochwertigen Glases erläutert. Aber auch die Bedeutung dieses Materials für die Betrachtung von Wassertieren wird diskutiert.
Es folgt ein Einblick in die frühe Aquarienfotografie, eine Fundgrube für jeden historisch interessierten Fotografen.
Ebenfalls mit viel Erkenntnisgewinn sind die Absätze zur Entwicklung der Schauaquarien und zu der Bedeutung von Aquarien für die ökologische Forschung verbunden.
Das letzte Kapitel erzählt die höchst interessante Geschichte des Zoologen Karl August Möbius, der in der Auseinandersetzung mit dem „Schlamm“ des Ostseegrunds die Zusammenhänge in marinen Lebensgemeinschaften durchschaut. Erkenntnisse, die ihn später, im Rahmen einer Auftragsstudie von Nordsee-Fischern zum Erhalt der Europäischen Auster (Ostrea edulis), zur Beschreibung des Begriffs „Biozönose“ führt.
Möbius ist übrigens auch der akademische Lehrer von Friedrich Junge, einem Dorfschullehrer in Schleswig-Holstein, der mit seinem 1885 vorgelegten Buch „Der Dorfteich als Lebensgemeinschaft“ bis heute die Behandlung des Themas „Stillgewässer“ in Schulen beeinflusst, zumindest in Waldorf-Schulen.
Das Werk endet mit einer Zusammenfassung der umfangreichen Reise durch die Gedanken- und Ideenwelt der frühen Aquarianer – und selbstverständlich mit einem umfangreichen Schriftenverzeichnis.
Insgesamt ist „Das Aquarium“ ein höchst lesenswertes Buch. Ich empfehle es jedem, der die Haltung von Tieren im Aquarium verbieten will.
Und ich lege es allen Menschen ans Herz, die sich seit ihrem elften Lebensjahr mit Aquarien auseinandersetzen und mit wunderbaren Momenten belohnt wurden.
So ergeht es mir seit 47 Jahren, und es wird nicht freiwillig enden. Das erzählt mir das vorliegende Buch ebenfalls.
Hans-Peter Ziemek
Wunder der Meere. Vom Korallenriff bis zur Tiefsee: Einblicke in eine geheimnisvolle Welt
National Geographic Special 1/2019. G+J Media GmbH & Co. KG, Hamburg. 124 Seiten, circa 72 Fotos, sechs Karten und neun Zeichnungen, Klebebindung. ISSN 2362-9733. 9,80 €
Neun verschiedene Kapitel über die „Wunder der Meere“ machen mich neugierig. Da wird beispielsweise Antje Boetius, Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts (Bremen), über die Faszination, die die Meere auf sie ausüben, interviewt. Sie ist einfach neugierig auf die Geheimnisse des Lebens. Im sich anschließenden Kapitel werden die Fotografen, die die Beiträge des Heftes illustriert haben, vorgestellt.
„Kimbe Bay – Tauchers Traum“ wird dem Leser in Wort und Bild nähergebracht. Korallenriffe, Anemonenfische, Haarsterne und Schnepfenmesserfische sind dort zu Hause. Eine Karte verdeutlicht die Lage dieses Gebietes im Pazifik, das sich durch eine schier unglaubliche Vielfalt an Organismen auszeichnet.
„Die Macht der Acht“ beschreibt anschaulich die vielen verschiedenen Arten von Kraken. Eindrucksvolle Farbfotos, Zeichnungen und ein ausführlicher Text schildern die achtarmigen Kopffüßer.
Der Beitrag „Gefahr oder Gefährdet?“ widmet sich dem Weißen Hai. Hier gibt es eine Fülle von Informationen zu Carcharodon carcharias. Wussten Sie, dass der Weiße Hai eine konstante Körpertemperatur von 26 °C hat? Eine Übersicht über die verschiedenen Haifisch-Arten rundet den Artikel ab.
„Reden Lernen“, die Sprache der Delfine kennenlernen, ist das Thema des nächsten Aufsatzes. Die Art und Weise, wie die Meeressäuger Fische fangen, ist nicht nur ausgesprochen effektiv, sondern auch spannend. Man kann sich nur wundern, wie neugierig und schlau diese eleganten Schwimmer sind.
„Suche nach Schlammvulkanen“ schildert die Expedition der „Meteor“ im Mittelmeer. Dabei geht es auch um die Gefahren, die der Abbau von Methanhydrat für die Umwelt und
für das Ökosystem mit sich bringen würde. Karten runden den Artikel ab, und das Forschungsschiff als schwimmendes Labor wird näher vorgestellt.
„Tod in der Antarktis“ ist ein Bericht über Seeleoparden, die Pinguine zum Fressen gern haben. Tolle Fotos vermitteln einen bleibenden Eindruck von diesen Prädatoren.
„Mitten im vollen Leben“ handelt von den Veränderungen im Sankt-Lorenz-Golf. In dem Gebiet leben 30 gefährdete Arten von Fischen, Vögeln und Meeressäugern. Aber es gibt dort Ölvorkommen, die – natürlich – gefördert werden sollen. Auf einer Karte am Schluss des Kapitels werden die Probleme sehr gut erläutert. Man kann nur hoffen, dass die Natur mit ihrer Vielfalt in diesem einzigartigen Meeresgebiet erhalten bleibt.
Mir hat die Lektüre des gesamten Heftes viele neue, überraschende und hochinteressante Informationen gebracht. Die Zusammenstellung von Fotos, Texten, Zeichnungen und Karten lässt nichts zu wünschen übrig!
Elfriede Ehlers
Libellen der Alpen. Der Bestimmungsführer für alle Arten
Von Matteo Elio Siesa. 240 Seiten, rund 735 Fotos und 260 Zeichnungen, Karten und Tabellen. Flexobroschur.
Haupt Verlag, Bern, 2019. ISBN 978-3-258-08097-0. 38 €
Das Angebot an odonatologischer Bestimmungsliteratur auf regionaler, nationaler und europäischer Ebene ist heute so umfangreich wie nie zuvor. Dennoch gibt es Gebiete, die unzureichend erforscht sind, auch in Europa. Dazu zählen beispielsweise bestimmte Regionen der Alpen, die aufgrund ihrer Höhenlage und ungünstiger oder wechselnder Witterungsverhältnisse schwer zugänglich sind.
Jean-P. Boudot (IUCN Dragonfly Specialist Group) schreibt im Vorwort: „Wir glauben, dass [das Buch] die Odonatologie in hohen Berglagen ermutigen und fördern wird. Es besteht … Bedarf an Informationen über diese Regionen und an Überwachung aufgrund der wachsenden Umweltbedrohungen, die insbesondere durch den Druck des Tourismus und den Klimawandel verursacht werden.“
Bevor der Autor des ursprünglich auf Italienisch erschienenen Werks (Blu Edizioni, Turin, 2017) nach der Danksagung und einer knappen Beschreibung der Alpen und ihres Klimas auf die einzelnen Arten eingeht, gibt er eine kurze, allgemeine Darstellung der Libellen, wie in solchen Veröffentlichungen üblich.
Ausgehend vom Ursprung und von den Vorfahren der heute lebenden Arten gelangt Siesa über die Systematik und Vielfalt der Libellen zu ihrem „biologischen Zyklus“ und schildert den Körperbau der Imagines, die Eiablage, die Entwicklung der Larven und die Exuvien. Eingestreute Info-Kästen behandeln Themen wie „Paarung und Eiablage“ oder „Prädator und Beute“.
Dann wird es konkreter. Das Kapitel „Die Habitate im Alpenraum“ stellt die verschiedenen Typen der Fortpflanzungshabitate vor (Quellen und Fließgewässer, Teiche und temporäre Tümpel, Seen, Sümpfe und Moore), in „Libellen und große Höhen“ erfährt der Leser Interessantes über die Auswirkungen zunehmender Höhe auf diese Insekten, und „Erhaltung“ fasst wichtige Fakten über Bedrohung (mit Infokästen über Klimawandel und Libellenschutz), Gesetze und Rote Listen zusammen.
Praktisch wird es auf den folgenden Seiten, denn hier geht es um das Beobachten und Erforschen sowohl der Imagines als auch der Larven. Sinn und Zweck wissenschaftlicher Sammlungen werden ebenso kurz erläutert wie nützliche Ratschläge zur Libellenfotografie ausführlich erteilt. Mehr noch: Eine ganzseitige Liste „Ausrüstung und Kleidung“ führt minutiös auf, was der Libellenforscher auf seinem Ausflug ins Gebirge unbedingt bei sich haben sollte.
Spezialisten für die einzelnen Gebiete stellen unter der Überschrift „Regionale Einzelheiten“ die Libellen der italienischen, französischen, Schweizer, bayrischen, österreichischen und slowenischen Alpen vor.
Nach dem „Schlüssel zur Bestimmung von Unterordnungen und Familien“ beschließt eine „Einführung in die Beschreibung der Libellenarten“ den allgemeinen Teil des Buchs. Sie erklärt dem Leser, was er in den einzelnen Porträts alles findet, nämlich: Auf der linken Seite eine Verbreitungskarte der Art im Alpenraum; den wissenschaftlichen Namen; die systematische Zuordnung; die deutsche, englische, französische, italienische und slowenische Bezeichnung; die Länge von Imago und Nymphe in Millimetern sowie anatomische Details (Zeichnungen); einen Flugzeitenkalender, ein Höhendiagramm und ein Habitatfoto; Hinweise zum Chorotypen (Verbreitung weltweit) sowie zu ähnlichen und syntopen Arten; der Text liefert Daten zu Ausbreitung, eine Kurzbeschreibung der Imago, besondere Aspekte zu Verhalten, Biologie und Erhaltungsstatus. Die rechte Seite ist Fotos mit entsprechenden Legenden vorbehalten; sie zeigen beide Geschlechter (dorsal und lateral), außerdem Details wie Paarung, Eiablage oder Larve.
In der üblichen Reihenfolge sind dann alle 89 in den Alpen nachgewiesenen Arten dargestellt, zuerst die Kleinlibellen (Zygoptera; vier Familien mit 34 Spezies), dann die Großlibellen (Anisoptera; fünf beziehungsweise sechs Familien – der Flussfalke [Oxygastra curtisii] wird hier als „Incertae sedis“ und nicht als Falkenlibelle [Corduliidae] geführt – mit 55 Taxa).
Ein Glossar, ein umfangreiches Literatur- und Homepage-Verzeichnis, ein Register der wissenschaftlichen und deutschen Artnamen und der Bildnachweis schließen sich an.
Das Buch ist „ein umfassender und detaillierter Bestimmungsführer – nicht nur für bereits erfahrene Libellenfreunde, sondern auch für Wanderer und Bergsteiger, die sich mit diesen farbenprächtigen Insekten des Lebensraums Alpen und ihrer Ökologie vertraut machen wollen“, so der Verlag. Das trifft es!
Rainer Stawikowski